„Faire Wahlen in der Türkei?“
Wenige Monate vor den angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei stellte sich die Diskussionsrunde „Salon Rouge“ des SPD-Ortsvereins Friedrichshafen die Frage, ob die Wahlen in der Türkei fair sind. Referent zu diesem Thema war Dr. Felix Schmidt, ehemaliger Leiter der Friedrich- Ebert-Stiftung in Istanbul.
In ihrer Begrüßung sprach Daniela Gubalke, Vorsitzende des SPD-Ortsvereins, ihre Anteilnahme für alle Opfer und deren Angehörigen der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien aus. „Das Erdbeben hat viel Leid und Schmerz verursacht, verändert aber das Setup zu den anstehenden Wahlen,“ sagte Referent Dr. Felix Schmidt. Er war 30 Jahre für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, davon sieben Jahre deren Vertreter in Istanbul. Die Frage des Salon Rouge sei einfach zu beantworten, denn die Wahlen in der Türkei seien nicht fair, wohl aber frei. Dies begründete der Experte mit dem enorm hohen demokratischen Bewusstsein in der türkischen Bevölkerung. „Das Recht auf politische Teilnahme wird sehr ernst genommen, immerhin liegt bei allen Wahlen die Wahlbeteiligung bei rund 80 Prozent“, so Schmidt.
Die derzeitige politische Lage beschrieb Schmidt anhand mehrerer Thesen. Die erste beschäftigte sich mit dem Erdbeben. So seien 14 Mio. Menschen in zehn Provinzen direkt betroffen. „Der Wahltermin am 18. Mai ist unrealistisch, laut Verfassung muss jedoch spätestens am 18. Juni gewählt werden,“ erklärte Schmidt. Nur im Kriegsfall sei es möglich, die Wahl abzusagen. Erdogan habe die Handlungsfähigkeit des Krisenmanagements bei der Erdbebenkatastrophe verlangsamt. „Das Budget des Katastrophenschutzes AFAD wurde in den letzten zwei Jahren auf umgerechnet 100 Mio. Euro gekürzt, gleichzeitig wurde das der Religionsbehörde Dynet auf 1,7 Mrd. Euro verdreifacht,“ so der Experte. Zudem spielten Korruption und Dysfunktionalität der Verwaltung eine große Rolle. Gebäude, die entgegen dem geltenden Recht, nicht erdbebensicher gebaut wurden, seien nachträglich von den Baubehörden legalisiert worden. Die Bauindustrie sei der wichtigste Verbündete Erdogans. „Ob der Zorn und die Wut der Bevölkerung wahlentscheidend ist, weiß noch keiner“, sagte Schmidt.
Als weitere These sprach er von ungleichen Ausgangsbedingungen für die Parteien und deren Kandidatinnen und Kandidaten. So bekomme die AKP deutlich mehr finanzielle Wahlkampfhilfen als die übrigen Parteien. Außerdem könne Erdogan den gesamten Staatsapparat, Medien und Justizsystem für seinen Wahlkampf nutzen. Das Oppositionsbündnis setzt sich aus sechs Parteien und deren jeweiligen Spitzenkandidatinnen und Kandidaten zusammen. „Es wird versucht, die Gegner politisch auszuhebeln,“ bestätigte Schmidt. „Der Spitzenkandidat der Opposition ist noch nicht benannt.“
Die Opposition stellte ihre Vision der Zukunft vor: Wiederherstellung des Rechtsstaats und Beseitigung der Wirtschaftskrise, derzeit herrscht eine Inflation von 85 Prozent. Außerdem wolle das Bündnis die Außenpolitik neu formulieren, so die Westbindung stärken und die EU-Mitgliedschaft anvisieren. Aktuell habe sich die Türkei als eigenständige Mittelmacht im Nahen Osten etabliert. „Erdogan hat den intensiven Kontakt zu Putin, sein Erfolg war der Korridor für den Getreidetransport aus der Ukraine auf die Weltmärkte,“ fasste Schmidt zusammen. Als „Erdbebendiplomatie“ bezeichnete er die verbesserte Beziehung zu Griechenland wie Armenien. Für die Hilfe wurde die Grenze zu Armenien seit 35 Jahren erstmalig geöffnet.
Die anschließende Diskussionsrunde startete mit der Frage, welche Rolle die Kurden im Wahlkampf spielen. Die aktuelle Situation sei angespannt, die kurdische Gesellschaft sei in der Türkei vertreten. „Es gibt nicht den Kurden als Feind“, stellte ein Teilnehmer fest. Die aktuelle Erdbebenkatastrophe kommentierte eine Teilnehmerin: „Erdogan hat die Gesellschaft im Stich gelassen. Hoffentlich öffnen die Überlebenden jetzt ihre Augen.“ Aus der Reihe der Diskussionsrunde ist das Verständnis für die Zivilgesellschaft sehr groß. „Keine Chance zu demonstrieren, bedeutet aber nicht, dass die Bevölkerung abgestuft ist. Lebhafte Demokratie kann wieder kommen.“ Die Diskussionsrunde endete mit der Frage, warum viele der in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken Erdogan wählen. Die These des Experten dazu lautete, dass sie aus der Entfernung ausschließlich die positiven, nicht aber die negativen Seiten im Land sehen.
Bildunterschrift: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Diskussionsrunde Salon Rouge mit Referent Dr. Felix Schmidt (Fünfter v.l.).